Arbeits- und Gesundheitsschutz bei Fernarbeit
Im Dezember 2019 brach in der chinesischen Stadt Wuhan eine neue Viruskrankheit aus, die unter der Bezeichnung COVID-19 bekannt wurde. Bis zum März 2020 hatte sie sich global so weit ausgebreitet, dass die Weltgesundheitsorganisation sie am 11.03.20 zur Pandemie (eine Epidemie, die sich über Landstriche und Länder ausbreitet) erklärte. Sie hat auch Auswirkungen auf die Praxis des Arbeitsrecht. In diesen Tagen führen viele Arbeitgeber auf nationaler Ebene Arbeits- und Reisebeschränkungen ein, um damit die Ausbreitung des Virus zu verhindern und die Sicherheit ihrer Mitarbeiter zu gewährleisten. Nicht zuletzt dank technologischer Fortschritte ist es heute möglich, die Pflicht zur Arbeitsleistung auch ohne physische Anwesenheit am Arbeitsplatz zu erfüllen. Diese Praxis ist bereits zu einem Teil des modernen Lebens geworden. Es ist jedoch festzustellen, dass die gesetzliche Infrastruktur mit dem Tempo der von Technologie getriebenen Änderungen des Arbeitslebens nicht mithalten konnte. Die Gesetzesbestimmung, die als rechtliche Grundlage für vorübergehende Fernarbeit dient, ist das in Artikel 14 des Arbeitsgesetzes („ArbG“), Gesetz Nr. 4857, geregelte „Fernarbeitssystem“, bei dem es sich um eine Verwaltungsmaßnahme handelt, die im Hinblick auf die öffentliche Gesundheit und die Gesundheit am Arbeitsplatz eingeführt wurde. Die Regelung nach Art. 14 bezieht sich jedoch auf Fälle, in denen der Arbeitgeber Fernarbeit wünscht und der Arbeitnehmer zustimmen muss. Die Regelung wurde nicht für außerordentliche Situationen geschaffen, in denen Notfallmaßnahmen ergriffen werden müssen. Angesichts dessen kann das heute vorübergehend eingeführte Fernarbeitssystem nicht mit den Regelungen von Art. 14 zur Deckung gebracht werden, und es damit zu erklären, wäre auch nicht der richtige Ansatz.
Dennoch gibt es eine Reihe von Aspekten, die zu beachten sind, wenn Betriebe in diesen schweren Zeiten in ihrer allgemeinen Praxis Arbeitsleistungen im Fernarbeitssystem erbringen lassen wollen. Einer davon betrifft die Gesetzgebung sowie die Vorkehrungen und Maßnahmen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz.
Mit Art. 14 ArbG wurden zwar die Grundlagen für die Fernarbeit geschaffen, eine detaillierte Ausarbeitung der sekundären Gesetzgebung fehlt jedoch in der Türkei. Es ist zu hoffen, dass COVID-19 die gesetzgeberische Arbeit im Sinne von Unternehmen, die in ihren Betrieben flexible Arbeitsmethoden einführen wollen, richtungweisend beeinflussen wird. Die durch die Krankheit verursachte Dringlichkeit könnte sich dabei beschleunigend auf diesen Prozess auswirken.
Fernarbeit ist ein Arbeitsverhältnis, bei dem ein Arbeitnehmer im Rahmen der vom Arbeitgeber eingerichteten Arbeitsorganisation seine Pflicht zur Arbeitsleistung von zuhause oder - mithilfe von technologischen Kommunikationsmitteln - von außerhalb des Arbeitsplatzes erbringt.
Die Internationale Arbeitsorganisation definiert Fernarbeit (Heimarbeit) in ihrem Übereinkommen über Heimarbeit (177) und ihren Empfehlungen betreffend Heimarbeit (184), beide aus dem Jahr 1996, wie folgt: Im Sinne dieses Übereinkommens/dieser Empfehlung
„a) bedeutet der Ausdruck `Heimarbeit` Arbeit, die von einer als Heimarbeiter zu bezeichnenden Person verrichtet wird, i) in ihrer Wohnung oder in anderen Räumlichkeiten ihrer Wahl, ausgenommen die Arbeitsstätte des Arbeitgebers;
ii) gegen Entgelt;
iii) deren Ergebnis ein Erzeugnis oder eine Dienstleistung nach den Vorgaben des Arbeitgebers ist, unabhängig davon, wer die verwendeten Ausrüstungen, Materialien oder sonstigen Einsatzfaktoren bereitstellt, es sei denn, dass diese Person den Grad der Selbständigkeit und der wirtschaftlichen Unabhängigkeit besitzt, der erforderlich ist, um gemäß der innerstaatlichen Gesetzgebung oder gemäß innerstaatlichen gerichtlichen Entscheidungen als selbständig erwerbstätig angesehen zu werden;
b) werden Personen mit Arbeitnehmerstatus nicht einfach deshalb zu Heimarbeitern im Sinne dieser Empfehlung, weil sie gelegentlich ihre Arbeit als Arbeitnehmer zu Hause statt an ihrem gewöhnlichen Arbeitsplatz verrichten;…“
In diesem Beitrag werden ausgehend von den anzuwendenden Bestimmungen und der Lehrmeinung die Konsequenzen von Arbeitsunfällen untersucht, die sich im erneut aktuellen gewordenen Fernarbeitssystem ereignen.
Ein Arbeitsunfall ist definiert als ein Ereignis, das einem Arbeitnehmer einen körperlichen oder seelischen Schaden zufügt, während er im Namen und auf Rechnung des Arbeitgeber seine Arbeitspflicht erfüllt.
In diesem Sinne ist von einem Arbeitsunfall zu sprechen, wenn ein Kausalzusammenhang herstellbar ist, zwischen einem Schaden an Körper und Seele, den ein Arbeitnehmer erleidet, während er sich zuhause (bei der Heimarbeit) befindet und seiner Pflicht zur Arbeitsleistung nachkommt. Anders ausgedrückt ist ein Arbeitsunfall ein körperlicher oder seelischer Schaden, den ein Arbeitnehmer bei der Erfüllung seines Arbeitsvertrages im Namen des Arbeitgebers erleidet. Umstände, die bei Fernarbeit als Arbeitsunfall gelten, sind nicht eindeutig geregelt, deshalb muss jeder konkrete Fall nach Maßgabe seiner spezifischen Bedingungen gewertet werden.
Vom Arbeitgeber zu ergreifende Maßnahmen
Zur Fernarbeit gibt es nationale und internationale Regelungen, um zu gewährleisten, dass die gegenüber dem Arbeitnehmer zu erfüllenden Pflichten zum Arbeits- und Gesundheitsschutz auch eingehalten werden. Wie bereits angemerkt ist die nationale Gesetzgebung allgemeiner Art und müsste in Zukunft mit detaillierten und spezifischen Sekundärregelungen ausgearbeitet werden.
In Artikel 7 des Übereinkommens zur Heimarbeit (177) der Internationalen Arbeitsorganisation heißt es dazu: „Die innerstaatliche Gesetzgebung über die Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit hat für die Heimarbeit zu gelten, wobei deren besondere Merkmale zu berücksichtigen sind, …“ In Pkt. 20 der o.g. Empfehlung 184 werden die Pflichten des Arbeitgebers ausführlich definiert:
„20. Die Arbeitgeber sollten verpflichtet sein:
a) Heimarbeiter über alle Gefahren, die dem Arbeitgeber bekannt sind oder bekannt sein sollten, im Zusammenhang mit der an sie vergebenen Arbeit und über die zu treffenden Vorsichtsmaßnahmen zu informieren und ihnen gegebenenfalls die erforderliche Ausbildung zu vermitteln;
b) sicherzustellen, dass die den Heimarbeitern zur Verfügung gestellten Maschinen, Werkzeuge oder sonstigen Ausrüstungen mit geeigneten Sicherheitsvorrichtungen versehen sind, und angemessene Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass sie ordnungsgemäß instand gehalten werden; und
c) Heimarbeitern unentgeltlich die erforderliche persönliche Schutzausrüstung zur Verfügung zu stellen.“
In der Türkei regelt der Art. 14 ArbG die vom Arbeitgeber zu ergreifenden Maßnahmen. Danach ist „der Arbeitgeber dazu verpflichtet, den Arbeitnehmer, den er in Fernarbeit beschäftigt, unter Berücksichtigung der von ihm durchzuführenden Arbeiten über Vorkehrungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz zu informieren, ihm die erforderlichen Schulungen zu erteilen, die Überwachung seiner Gesundheit sicherzustellen und in Bezug auf die bereitgestellte Ausrüstung die erforderlichen Maßnahmen zur Arbeitssicherheit zu ergreifen.“
1. Information des Arbeitnehmers
Im Fernarbeitssystem hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seine Rechte sowie unter Berücksichtigung möglicher Risiken, die aus dem Umfeld herrühren können, in dem die Arbeit erbracht wird, über Arbeitsschutzbelange zu informieren. Denn die Situation eines Arbeitnehmers, der am Computer arbeitet, und eines Arbeitnehmers, der in Fernarbeit zur Fertigung eingesetzt ist, unterscheidet sich. Deshalb müssen auf der Grundlage von wahrscheinlichen Annahmen Modelle entwickelt werden.
2. Schulung des Arbeitnehmers
Zweifellos muss das Thema Arbeits- und Gesundheitsschutzschulungen für Arbeitnehmer behandelt werden und mögliche Ereignisse, die unter die Aufsichtspflicht des Arbeitgebers fallen und zu Haftungen führen können, sowie sonstige Belange müssen sorgfältig geprüft werden. In diesem Sinne sollte in Betrieben, die zum Fernarbeitssystem übergehen, die Praxis der Arbeits- und Gesundheitsschutzschulungen überprüft werden. Derartige Unterweisungen könnten vorzugsweise auch in einem elektronischen Medium erteilt werden.
3. Überwachung des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers
Die gesetzlich vorgesehenen regelmäßigen Gesundheitsüberprüfungen gemäß „Verordnung über Aufgaben, Zuständigkeiten, Verantwortungen und Schulungen von Betriebsärzten und sonstigem Gesundheitspersonal“ können erforderlichenfalls auch in kürzeren Abständen durchgeführt werden. Hierbei ist zu beachten, dass dies nach Maßgabe der Entscheidung des Betriebsarztes zu erfolgen hat.
4. Arbeitsschutzmaßnahmen in Bezug auf die bereitgestellte Ausrüstung
Im ArbG findet sich keine eindeutige Regelung dazu, wer die zur Durchführung der Arbeitsleistung erforderliche Ausrüstung bereitstellen muss. Der Artikel 413 des türkischen Schuldrecht legt jedoch fest, dass „der Auftraggeber dazu verpflichtet ist, dem Arbeitnehmer die erforderlichen Gerätschaften und Ausrüstungen bereitzustellen, es sei denn, etwas Gegenteiliges wurde vereinbart oder es gibt einen lokalen Brauch.“ Die Ausrüstung ist dem Arbeitnehmer in einem Zustand zu beschaffen, der den Arbeits- und Gesundheitsschutz nicht gefährdet, und dem Arbeitnehmer zu übergeben. Außerdem ist der Arbeitnehmer im ordnungsgemäßen Gebrauch der Ausrüstung zu unterweisen.
Es versteht sich von selbst, dass die Verantwortung des Arbeitgebers auch nach Befolgung der o.g. Maßnahmen weiterbesteht. Darüber hinaus gilt gemäß Lehrmeinung, dass Unfälle während der Arbeitszeit, die zu körperlichen oder seelischen Schäden des Arbeitnehmers führen, als Arbeitsunfälle anzunehmen sind und die Beweislast des Gegenteils beim Arbeitgeber liegt.
In der Praxis ist eine Unterscheidung von Unfällen, die sich außerhalb der Aufsicht und Kontrolle des Arbeitgebers ereignen, recht schwierig. Die Rechtsprechung des Yargıtay (Oberstes Gericht) in den vergangenen Jahren hierzu fiel zugunsten der o.g. Lehrmeinung aus. Bisher gibt es noch keine Regelung zur Haftung in Bezug auf Arbeits- und Gesundheitsschutz bei Fernarbeit, sodass nur eine allgemeine Einschätzung vorgenommen werden kann. Danach hat der Arbeitgeber die o.g. Pflichten zu erfüllen. Die diesbezügliche Rolle des Arbeitgebers innerhalb vernünftiger Grenzen aufzuzeigen, wird jedoch nicht einfach sein. Bis die Sekundärgesetzgebung dazu in Kraft tritt, sollten Betriebe, die flexible Arbeitsmethoden wie die Fernarbeit einführen wollen, nach Maßgabe der allgemeinen Gesetzgebung und unter Berücksichtigung der Art der Arbeit ihre eigenen Betriebsordnungen erstellen und in Kraft setzen.
Anwaltskanzlei Canaz Yilmaz